Das Prinzip heißt Gefühl

Aggro Berlin in der Nachwendeprovinz: »Almost Fly« erzählt mit viel Humor von der Geburt des Deutschrap

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
So sah sie aus, die Selbstermächtigung in den mikrokosmischen Randgebieten, als Hip-Hop noch nicht marktdominant war.
So sah sie aus, die Selbstermächtigung in den mikrokosmischen Randgebieten, als Hip-Hop noch nicht marktdominant war.

Wem eine gute und eine schlechte Nachricht zur Auswahl gestellt wird, der wünscht sich normalerweise die schlechte zuerst. Wohlan! Die schlechte Nachricht der Warner-Serie »Almost Fly« lautet: Rein äußerlich ist Florian Gaags heitere Zeitreise zu den Wurzeln des deutschsprachigen Hip-Hop, mit der er sein autobiografisches Graffiti-Epos »Wholetrain« von 2006 quasi fortsetzt, eine Zumutung. Die Story geht so: Kurz nach der Wende rappen sich drei Außenseiter das Spießergefängnis ihrer westdeutschen Kleinstadt Eichfeld schön – und käuen dabei vieles wieder, was hiesiges Fernsehen so plakativ, berechenbar, öde macht.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Während die Erwachsenen in dieser Coming-of-Age-Erzählung gern aussehen, als kämen sie aus dem Modemuseum, sind Jugendliche ihrer Zeit oft drei Jahrzehnte voraus. Da stimmt was nicht, wenn die Eltern spießiger angezogen wirken als die Großeltern. Ihre Kinder hingegen reden wie die Gangsta-Rapper der Nullerjahre. Während die Ausstattung also eher 1982 ist, sind Gestik, Worte, Habitus tendenziell 2022. Wie gewohnt im heimischen Histotainment, folgt die Funktion mal wieder der Form.

Womit wir zur guten Nachricht kommen: Denn alles, was die Zeitreise von Warner TV Serie bei Sky äußerlich anstrengend macht, gleicht der Regisseur mit seinem eigenen Drehbuch doppelt aus. Gaags Prinzip heißt Gefühl. Ein Gefühl für die Protagonisten. Ein Gefühl für deren Ängste, Sorgen, Restriktionen. Ein Gefühl für Gruppendruck, Zwänge und Isolation. Vor allem aber eines für jene Musik, die den oberpfälzischen Teenager Ende der Achtziger aus derselben Provinzialität befreite wie nun seine vier Hauptfiguren.

Walter (Samuel Benito) zum Beispiel trägt ja nicht nur Opas Vornamen. Er soll auch dessen Lebensweg in Papas Tankstellenwerkstatt fortsetzen. Sein bester Freund Ben (Andrew Porfitz) steht als unehelicher Sohn eines Schwarzen GI zwar noch weiter am Rande, aber auch Walters Träume von Aufstieg, Akzeptanz, Flucht, geschweige denn einer Chance beim heimlichen Schwarm Sarah (Emma Preisendanz) bleiben unerfüllbar – bis sie die Lösung sehen. Besser: hören. Auf einem Konzert in der benachbarten US-Kaserne verfallen beide dem Hip-Hop. Denn der Deutschrap kommt ursprünglich aus den Garnisonsstädten der US Army in Westdeutschland.

Walter und Ben kommen mit einem subkulturellen Lebensgefühl in Berührung, das damals zwar bereits auf dem Weg in den Mainstream war, aber nur auf US-Amerikanisch erhältlich. Und dann versuchen sie es einfach selbst zu erzeugen. Mit Hilfe des technikaffinen Nerds Nik (Simon Fabian) kriegt Atomic Trinity, wie sich das Trio nennt, zwar einen Auftritt beim Schulfest. Ihr Dictionary-Englisch reicht indes nicht für das, was die Szene »Street Credibility« nennt. Der Weg zum Respekt führt übers eigene Idiom: Deutschrap.

Am Beispiel der Außenseiter, zu denen sich die schwer gemobbte, aber sehr tanzbegabte Denise aus Dessau (Paula Hartmann) gesellt, erzählt Florian Gaag also nicht nur von jugendlicher Eigenermächtigung im Umfeld tradierter Gebräuche. Er schildert den Anfang einer Subkultur, die nun schon lange marktbeherrschend ist.

Vielleicht reden deshalb auch seine Figuren schon 1990 wie die Aggroberliner Millionäre von heute; vielleicht zeigt Gaag aber auch nur die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit seiner Charaktere. »Almost Fly«, zu Deutsch »Beinahe cool«, ist daher nicht nur ein popkultureller Ritt durch die Frühzeit des Deutschrap, der damals zwar schon Nischen von Hamburg bis Heidelberg besetzte, in den Charts aber ulkig nach »Die da?!« klang, dem ersten Hit der Fantastischen Vier, die in der Szene recht umstritten waren. Über anschlussfähige 270 Minuten in sechs Folgen blicken Wiedemann & Berg wie in »4 Blocks« und »Para« auf eine Mehrheitsgesellschaft, der das wachsende Selbstbewusstsein ihrer mikrokosmischen Randgebiete vor allem Furcht bereitet.

Diese Furcht bei aller Liebe für seine Hauptfiguren ernst zu nehmen, ist das wahre Alleinstellungsmerkmal dieser sozialkritischen Komödie, die nicht nur etwas für Hip-Hop-Fans ist. Leon Ulrich als naiver Jugendklub-Pädagoge Johannes, Anja Schneider als Walters überbehütende Mutter Gudrun, Julius Nitschkoff als sein testosterongeschädigter Bruder Helmut oder Markus Lerch als sittenstrenger Schuldirektor Becker – sie alle dürfen ebenso wie die vier jungen Rapper an der Gegenwart verzweifeln, nutzen nur völlig andere Exit-Strategien.

Weil Rassismus und Misogynie, Machismo und Mobbing nebenbei ebenso mitverhandelt werden wie die Magie erwachender Freundschaft, Liebe, Persönlichkeitsbildung, sieht man dem Sechsteiler die plakative Ausstattung also einigermaßen nach. Und am Ende dürfen die liebenswert blöden Kleingangster Cengiz (Samy Abdel Fattah) und Damir (Elmo Anton Stratz) sogar noch das versuchen, was Florian Gaags »Wholetrain« einst im Titel trug: einen Zug komplett mit Graffiti besprühen. Klappt nicht ganz, so viel sei verraten. Sie behalten aber trotzdem ihre Würde. Wie alle hier.

Ab dem 5.5. auf Sky.

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